Texte
Leseprobe aus "Erikson und die Religion", Münster 2007
... Von daher muss eine sich der Pluralität stellende Religionspädagogik Eriksons Impuls einer psychosozialen Identitätsentwicklung einerseits unbedingt aufgreifen, diese jedoch andererseits auch weiterentwickeln. Die Orientierung verschaffenden Ideologien einer Gesellschaft sind zunehmend nicht mehr so strukturiert, dass sie Jugendlichen eine inhaltlich konkrete Wegweisung für die eigene Lebensführung anbieten. Ob man das nun bedauert oder andererseits darin die Chance für neue Freiräume sieht, bleibt letztlich der eigenen Perspektive überlassen. Eine für alle verbindliche inhaltliche Füllung einer kulturell-religiösen „Leitkultur“ gibt es nicht mehr – und wenn man genau hinschaut, hat es das auch historisch nie für alle gegeben. Man kann sich das auch an der gesellschaftlichen Bedeutung von Religiosität und Kirchlichkeit verdeutlichen. Waren noch bis ins 20. Jahrhundert hinein konfessionelle Milieus regional lebensprägend und konnten diese Milieus z. B. durch interkonfessionelle Eheschließungen oft nur unter Aufsichnehmen von großen Sanktionen durchbrochen werden, so erleben wir hier gegenwärtig eine bunte Vielfalt. Gelten religiöse Vorstellungen zumindest ihrem Anspruch nach als hoch individualisiert und der Gestaltung des Einzelnen überlassen, so ist der gelebte Bezug zu einer kirchlichen Gemeinschaft darin als eine individuelle Option enthalten. Das reicht dann von auf Verbindlichkeit pochenden freikirchlichen Gemeinschaften bis hin zu einer gefühlten Zugehörigkeit zu verschiedenen spirituellen Anbietern auf dem freien religiösen Markt.
Freilich gehört die Bejahung einer plural verfassten Demokratie ebenso zu den Leitvorstellungen unserer Gesellschaft wie das Recht eines jeden Einzelnen auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit im Rahmen der geltenden Gesetze. Vorgegeben ist also ein formal auf individuelle Entfaltung zielender Orientierungsrahmen, den der Einzelne selbst konkret zu füllen hat. Dabei kommt dann hier aber auch die doppelte Bedeutung von „Ideologie“ ins Spiel, ist sie doch stets nicht nur herrschende Leitvorstellung, sondern zugleich auch Leitvorstellung der Herrschenden. Denn jene Leitvorstellung freier Entfaltung entpuppt sich in der Realität schnell als doch nur für einen Teil der Jugendlichen wirklich umsetzbar. Viele andere hören zwar die Botschaft von der freien Entfaltungsmöglichkeit, erleben aber zugleich ein hohes Maß an sozialen Schließungsprozessen, welche ihnen freie Entfaltung verunmöglicht: alles ist möglich, aber nicht für mich! Es gehört zu den Strukturen moderner Individualisierungsprozesse, dass diesen Jugendlichen dann auch noch suggeriert wird, sie selbst trügen allein die Verantwortung für ihr aktuelles Scheitern bei der Berufswahl und anderswo.
Eine religiöse Erziehung, die diesen komplexen Strukturen des Aufwachsens heutiger Jugendlicher gerecht werden will, wird zunächst, wie Hans-Jürgen Fraas betont, auf die primäre Fundierung von Glaubensvorstellungen durch das Elternhaus und – diese unterstützend - durch kirchliche Angebote für Kinder achten. Die dabei nach Erikson für Kinder wesentliche Bildung von Identifikationen setzt allerdings voraus, dass die Eltern auch wirklich etwas sichtbar werden lassen von ihren eigenen Glaubensvorstellungen. Es ist weit weniger bedeutsam, welche Formen religiöser Erziehung hier gewählt werden und wie kirchennah diese sind, als dass vielmehr überhaupt etwas von der Religiosität der Eltern in der Familie sichtbar wird. Kinder wollen sich auch hier an ihren Eltern orientieren, tun sich aber sehr schwer, wenn sie nur vage erahnen können, was den Eltern heilig und wichtig ist. Das gilt insbesondere für die Phase der primären Fundierung, in der es um die elementare Grundlegung einer religiösen Praxis beim Kind geht. Hier sind folgende Forderungen an eine solche religiöse Erziehung zu stellen, die Kindern eine Hilfe in einer plural verfassten Gesellschaft sein will:
Die erste Forderung an eine religiöse Erziehung lautet demnach, dass Eltern sichtbare Formen ihrer eigenen Familienreligiosität finden, an denen sich die Kinder anschließen und die sie zunächst als Identifikationen wie anderes auch von den Eltern übernehmen können. Das setzt voraus, dass die Eltern einen sowohl emotionalen als auch rationalen Zugang zu ihrer eigenen Religiosität finden und dieses nach außen deutlich werden lassen können.
Die zweite Forderung an eine religiöse Erziehung im Elternhaus lautet dann, dass es sich um authentische Formen handelt, die die Kinder sowohl mit der Person ihrer Eltern als auch mit dem kulturellen Stil der Familie, wie er ansonsten gepflegt wird, in eine tragfähige Verbindung bringen können. Religiöse Erziehung muss also zum sonstigen Habitus einer Familie passen, wenn sie nicht als schwer nachvollziehbarer Fremdkörper betrachtet werden will.
Die dritte Forderung an eine religiöse Erziehung im Elternhaus lautet schließlich, dass es sich um verlässliche Formen handeln muss, die die Kinder wiedererkennen können und mit denen sie so allmählich vertraut werden. Gerade jüngere Kinder sind sehr auf wiederkehrende Formen angewiesen, so dass es ihnen wenig nützt, wenn die Eltern hier allzu oft Neues ausprobieren. Kinder sind im Grunde genommen eher konservativ und haben ein großes Bedürfnis nach erkennbaren und vertrauten Formen – so auch in der religiösen Erziehung.
Alle drei Forderungen an religiöse Erziehung sind also an die Eltern selbst gerichtet und beziehen sich im Wesentlichen darauf, dass solche Formen gefunden werden, die den Kindern auch im religiösen Bereich den Aufbau von Identifikationen ermöglichen.
Durch die primäre Fundierung wird in der religiösen Erziehung eine wichtige Voraussetzung für die weitere Glaubensentwicklung des Kindes geschaffen. Freilich kann die religiöse Erziehung es dabei aber nicht bewenden lassen. Zur primären Fundierung tritt daher die sekundäre Reflexion, die dann vor allem durch den Religionsunterricht einzuüben wäre. Hier geht es insbesondere um das kritische Durcharbeiten erworbener religiöser Einstellungen im Zuge der sich entwickelnden Selbständigkeit. Ist die primäre Fundierung allerdings im Elternhaus nur unzureichend geleistet, so steht auch die sekundäre Reflexion unter erschwerten Bedingungen: Schule und Kirchengemeinde müssen dann verstärkt versuchen, beides auf sich zu nehmen. Da dies häufiger der Fall ist, müssen sich auch die religionsdidaktischen Konzepte stärker als bisher darauf einstellen. So ging der problemorientierte Ansatz, den Hans-Bernhard Kaufmann und Karl-Heinz Nipkow in den 60er Jahren entwickelten, noch weitgehend davon aus, dass nur die sekundäre Reflexion einzuüben wäre, wofür das stark kognitive und textorientierte Profil dieses Ansatzes auch sehr geeignet war. Demgegenüber muss aber die heutige Praxis verstärkt auch mit religiösen Ausdrucksformen allererst vertraut machen, ohne dabei die sekundäre Reflexion außen vor zu lassen. Hierzu müssen deshalb kombinierende Konzepte entwickelt werden, die Kindern und Jugendlichen einen auch emotional bestimmten Zugang zur Religiosität ermöglichen und zugleich ihre intellektuellen Fähigkeiten fördern helfen.
Auch wenn die sekundäre Reflexion ansatzweise mit dem Grundschulalter schon einsetzt, so fällt ihr Schwerpunkt doch mit den Ablösungsprozessen vom Elternhaus und damit mit dem Aufbau eigenständiger Identitätskonzeptionen zusammen. In Aufnahme von Heiner Keupps Weiterentwicklung einer prozessorientierten Identitätstheorie wäre Erikson hier so weiterzudenken, dass auch die religionspädagogische Begleitung der Jugendlichen darauf achtet, kein statisches Identitäts-Modell entwickeln zu wollen, sondern ein in verschiedenen Lebensbereichen immer wieder neu zu justierendes Identitätsgefühl, das sensibel auf soziale Veränderungsprozesse reagieren kann. Hierfür spielt dann freilich Eriksons Grundkonzept von einer psychosozialen Verflechtung dieses Identitätsgefühls nach wie vor eine große Rolle. Für die Konkretisierung einer sekundären Reflexion, die dann besser als religiöse Bildung denn als religiöse Erziehung zu beschreiben wäre, sind folgende Forderungen aufzustellen:
· Eine für die sekundäre Reflexion hilfreiche religiöse Bildung zeichnet sich erstens aus durch einen subjektorientierten Zugang. Hier geht es darum, die eigene religiöse Entwicklung verstehen zu lernen, eigene Fragen und Problemstellungen formulieren zu können und somit kompetent dafür zu werden, die eigene Person in die theologische Reflexion einzubringen.
· Zweitens bedarf eine religiöse Bildung, die die sekundäre Reflexion unterstützen will, auch einer traditionsorientierten Dimension, die auf biblische Texte ebenso bezogen ist wie auf die Dogmatik. Gerade wenn mit Erikson für die Identitätsbildung auf eine Vermittlung von Innen und Außen zu achten ist, so ist eine Traditionsorientierung ein wichtiges pädagogisches Hilfsmittel gegen alle Formen einer religiösen Regression. Die Lösungsmöglichkeiten anbietende, aber auch eigene Lösungen kritisch hinterfragende Funktion der Tradition kann somit auch ein unerlässlicher Baustein für das Einüben sekundärer Reflexion werden.
· Schließlich setzt das kritische Finden einer eigenen Positionalität in der pluralen Gesellschaft auch in religiösen Dingen eine dialogische Kompetenz voraus. Es kann heute nicht mehr darum gehen, sekundäre Reflexion nur innerhalb einer einzigen Religion einzuüben. Vielmehr erfordert auch hier der Aufbau eines Identitätsgefühls im Kontext faktischer religiöser Pluralität das Einüben einer vertieften Dialogfähigkeit im Umgang mit anderen Religionen. Dieser Dialog ist sowohl im Hinblick auf eine friedliche Koexistenz der Religionen als auch für den Aufbau eines eigenständigen Glaubensprofils eine existentielle Notwendigkeit.
Religiöse Bildung verstanden als sekundäre Reflexion kann für Jugendliche eine wichtige Hilfe sein, auf ihrem Weg zu einer neuen Balance zwischen Innen und Außen im Sinne des Aufbaus eines flexiblen, kontextbezogenen Identitätsgefühls. Es wäre aber nur eine halbe Rezeption des Eriksonschen Theoriemodells, wenn die Religionspädagogik diesen Prozess nur auf dem Weg individueller Begleitung unterstützen wollte. Hinzutreten müssen vielmehr auch Strategien gesellschaftspolitischer Solidarität, die auf verbesserte Rahmenbedingungen für Jugendliche zielen. In diesem Sinne brauchen dann nicht nur der Religionsunterricht und die Kirchen, sondern auch die Schulen ein neues vernetztes Denken. Genauso wie pädagogische Institutionen die individuelle Entwicklung ihrer Schülerinnen und Schüler im Blick haben, sollten sie auch aktiv dafür eintreten, dass alle Kinder und Jugendlichen einen Platz in dieser Gesellschaft finden können. Lernen hat immer auch eine politische Dimension – und eine an den Kindern und Jugendlichen als Subjekten ihrer Lernprozesse orientierte Pädagogik wird dies sinnvollerweise nicht ausklammern können.
Diese Verknüpfung von individuellen und sozialen Aspekten der Entwicklung hat jüdisch-christliche Theologie im Ausgang von den biblischen Texten in vielfältiger Weise betont. In christlicher Hinsicht ist es die Freiheit der Kinder Gottes, die nicht nur inwendig, sondern immer auch gesellschaftsbezogen zum Tragen kommen will. Es könnte sich somit gerade der christliche Gottesgedanke als Impuls für eine solche emanzipatorische Praxis erweisen, wie sie für den gelungenen Aufbau eines Identitätsgefühls erforderlich ist. Die Religionspädagogik wird gut daran tun, hier die Anregungen von Erikson, aber auch von Hans-Jürgen Fraas weiterzudenken.